Rahel Levin und ihre Gesellschaft

aus: Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik und Literatur

Jg. 3 (1844), Bd. 2 (1. Semester), S. 709–720, 735–746.

[Autor: vermutlich Karl August Varnhagen von Ense, nach Aufzeichnungen oder mündlichen Mitteilungen des Altgrafen Hugo von Salm-Reifferscheidt, der nicht als Ich-Erzähler figuriert, sondern unter Namenskürzel S. 735 in Begleitung von Friedrich Wilhelm Meyern auftritt.]

 

[S. 709]

Rahel Levin und ihre Gesellschaft.

(1801.)

Aus den Papieren des Grafen ****†)

I.

Brinkmann, Rahel, Gräfin Einsiedel, Ludwig Robert. – Schlegel’s Lucinde, »Bekenntnisse eines Ungeschickten.« – Madame Unzelmann und eine Tölpelei. – Gualtieri. – Kritik und Kunst. – Herr von Schack. – Eine Spielgeschichte; eine Liebesgeschichte. – Ludwig Robert’s Spitzverse. – Xenienfragen.

 

Gustav von Brinkmann, dem ich von Paris her empfohlen war, sorgte seit den wenigen Tagen, daß ich in Berlin lebte, bestens für meine Unterhaltung, und für den nächsten Abend, wo die Schiller’sche Maria Stuart angekündigt war, hatte er mich in das Theater zu führen versprochen.

Als wir uns dort einfanden, hörten wir, das Stück sei verändert, Madame Unzelmann spiele nicht, und auf diese nur, für welche Brinkmann in starken Flammen stand, hatten wir es abgesehen. Ich verhehlte meinen Verdruß nicht und wollte nun gar nicht in’s Theater.

Brinkmann sah meinen Mißmuth, und einer guten Eingebung folgend, rief er plötzlich aus: Wissen Sie was? Statt des Theaters sollen Sie heute die beste Gesellschaft kennen lernen, die beste in Berlin, und da können Sie nur getrost Ihren Maßstab von Paris und Wien anlegen, wir scheuen ihn nicht!

– Mir ganz recht! erwiederte ich, ich kann mir gern gefallen lassen, daß nach so vielem Guten, was hinter mir liegt, das Beste doch eben jetzt noch vor mir sei. Wo wollen Sie mich hinführen?

– Zu Mademoiselle Levin, Rahel Levin.

[Fußnote S. 709]

†) Der Aufsatz stammt aus Oesterreich, und wie wir zu vermuthen Ursache haben, bedeuten die vier Sternchen: Graf Hugo Salm.             Die Red.

[S. 710]

– Ist es dieselbe, der ich Grüße von Frau von Vandeul auszurichten habe?

– Dieselbe. Ich habe ihr schon gesagt, daß ich Sie bringen werde. Es kann heute so gut geschehen, wie ein andermal.

Frau von Vadeul hatte mir von ihrer Freundin nur Allgemeinen gesprochen. Auch konnte eine Französin von einer Deutschen nicht wohl das Eigenthümlichste auffassen und sagen, selbst wenn die Französin, wie Frau von Vandeul, eine Tochter Diderot’s war. Ich fragte daher, wer und wie diese Person eigentlich sei?

– Sie ist, erwiederte Brinkmann, ein selbständiges Mädchen von außerordentlichem Geist, klug wie die Sonne und dabei herzensgut, durchaus eigenthümlich; Alles versteht, Alles empfindet sie, und was sie sagt, ist in amüsanter Parodoxie oft so treffend wahr und tief, daß man es sich noch nach Jahren wiederholt und darüber nachdenken und erstaunen muß. Die geistreichste und vornehmste Gesellschaft versammelt sich bei ihr, aber ganz ohne Prunk und Ostentation, ja ich möchte sagen, ohne Unterschied und Auswahl, ganz nach dem natürlichen Zuge der äußeren Anlässe und der inneren Convenienz. Sie ist wohlhabend, lebt sehr unabhängig bei ihrer Mutter, die für reich gilt; sie macht keinen Aufwand, die Bewirthung ist es nicht, um deren willen man hingeht, alles Aeußere ist höchst einfach, aber um so behaglicher und in dieser Art doch wieder reichlich und auserlesen.

Wir hatten in die Jägerstraße eingelenkt, und nach wenigen Schritten standen wir vor dem Hause. Wir wurden gemeldet und angenommen, durch einen Saal in ein anstoßendes Eckzimmer geführt, und Brinkmann stellte mich der Dame des Hauses und bald auch einigen anderen Personen vor, die wir bei ihr fanden.

Demoiselle Levin war weder groß noch schön, aber fein und zart gebildet, von angenehmem Ausdruck; ein Zug von überstandenen Leiden – sie war in der That noch nicht lange von einer Krankheit genesen – gab diesem Ausdruck etwas Tiefrührendes; doch ließ ihr reiner und frischer Teint, zusammenstimmend mit ihren dunklen und lebhaften Augen, die gesunde Kraft nicht verkennen, welche in dem ganzen Wesen vorherrschte. Aus diesen Augen fiel ein Blick auf mich; ein Blick, der bis in mein Innerstes drang, und dem ich kein schlechtes Gewissen hätte bieten mögen. Aber ich schien ihr da- [S. 711] bei kaum ein Gegenstand näheren Interesses; es war dieser Blick nur wie eine vorüberstreifende Frage, die gar nicht ausführliche, sondern nur ungefähre Antwort wollte, und mit der rasch ergriffenen ganz befriedigt schien.

Ich brachte meine Begrüßungen an, und bei dem Namen Vandeul erheiterte sich das ganze Gesicht. Ich mußte in der Eile hersagen, was ich Alles wußte. Demoiselle Levin schien außerordentlich von der guten Frau eingenommen und sagte mit wenigen Worten so viel Gutes und Bezeichnendes von ihr, daß ich selber anfing, sie unter ganz neuem Gesichtspunkte zu sehen, und sonderbar genug, sie erst jetzt recht kennen lernte, da ich hundert fünfzig Meilen von ihr entfernt war. Ich beklagte mich gegen Demoiselle Levin, daß ich sie selber, da sie ja auch vor nicht langer Zeit in Paris gewesen, nicht schon dort gesehen habe, welches doch leicht wäre möglich gewesen, sowohl bei Frau von Vandeul, als auch bei Frau von Humboldt, wo ich ebenfalls zuweilen hingekommen. Sie meinte, wir wollten das jezzige verspätete Begegnen um so besser pflegen, und ihre Worte waren so gütig, daß ich mich gleich aller Verlegenheit enthoben fühlte und ihr lebhaft ausdrückte, wie ich kühn genug wäre, zwischen ihr und mir viel Uebereinstimmendes vorauszusetzen.

Sie sprach darauf Einiges mit Brinkmann, wobei ich nicht zuhörte, sondern mir unterdessen die anderen Personen näher ansah.

Neben der Wirthin auf dem Sopha saß eine Dame von großer Schönheit, eine Gräfin Einsiedel, wie ich nachher hörte. Sie schwieg und schien wenig Antheil an dem zu nehmen, was ihr ein Herr vorsagte, den man Abbé nannte, und dessen Gesicht und Stimme mir gleich den anmaßlichen Pedanten zu erkennen gaben. Rückwärts abgewendet, sprach Friedrich Schlegel mit dem Bruder von Rahel, dessen Dichtername Ludwig Robert späterhin auch sein bürgerlicher wurde. Beide Herren waren mir schon bekannt; Schlegel hatte ich mit seinem Freund und Lobredner Schleiermacher am Tage zuvor bei Madame Veit gesehen; daß er seinen Roman Lucinde auch »Bekenntnisse eines Ungeschickten« benannt, war mir gleich ganz charakteristisch für ihn, denn ungeschickt im höchsten Grade erschien er mir selbst und sein Roman. Mit Ludwig Robert aber hatte ich Bekanntschaft bei Madame Fleck gemacht, einer schönen und ungemein reizenden Frau, die den Dichter nicht wenig bezaubert zu haben schien; [S. 712] er war sehr erfreut über einige neue Chansons und kleine Theaterstücke, die ich von Paris mitgebracht hatte, und er hoffte einige der letzteren für die deutsche Bühne zu bearbeiten.

Schlegel und Robert machten sich lustig über den Abbé, wie ihre Mienen deutlich zeigten, und suchten durch verständigende Winke auch mich in den Scherz hineinzuziehen. Eben hatte aber die Wirthin ihre Augen dorthin gewandt und drückte mit ernstem Blicke ihre Mißbilligung aus, als die Thüre aufging und eine rasche allerliebste Dame hereinstürmte, die mit heiterem Lachen auf Demoiselle Levin zudrang und neben ihr auf einen Lehnstuhl sich mehr hinfallen ließ als setzte. Alle begrüßten sie mit Jubel.

– Aber was ist das? hob Demoiselle Levin an, ist denn nicht heute Maria Stuart? und ich denke, Sie sind...

– Ja, denken Sie nur! versetzte die reizende, muntere Frau, Mortimer ist krank, und da schiebt Iffland geschwind ein anderes Stück vor, worin ich Nichts zu thun habe; ich mache mir das zu Nutze und komme zu Ihnen, und wenn Sie mich wollen, bleibe ich den ganzen Abend.

– Prächtig! rief Demoiselle Levin, und wie treffen Sie es! Gleich zwei Ihrer Anbeter finden Sie hier, Schlegel und meinen Bruder...

Es ist die Unzelmann! hatte mir Brinkmann zugeflüstert. Sie war vor nicht langer Zeit von Weimar zurückgekehrt, wo sie großes Glück gemacht und Goethe oft gesprochen hatte, von dem sie so bezaubert war, daß sie dessen Iphigenia nun trotz Iffland’s heimlicher Abneigung mit Gewalt als ihre Benefizvorstellung auf’s Theater bringen wollte. Brinkmann war zu ungeduldig, mir weitere Erklärungen zu geben, und nahm einen vollen Anlauf, sich als den wahren Anbeter der Dame zu bezeigen, als Schlegel unerwartet ihm vortrat und sich gegen sie entschuldigte, etwas feierlich und verlegen, aber dennoch kühn, es sei eigentlich sein Bruder August Wilhelm, der ein Anbeter von ihr heißen könne, und der sie als das Feenkind besungen habe. Mir wurde ganz warm, eine solche deutsche Tölpelei war mir noch nicht vorgekommen. Aber die muntre Frau erwiederte lachend: Ich weiß es recht gut und unterscheide die ungleichen Brüder sehr wohl! Doch wenn ich von Ihnen, lieber Schlegel, nicht mehr fordere, als von Ihrem Bruder, so können Sie in Gottes [S. 713] Namen einen kurzen Abend ohne Gefahr seine Rolle übernehmen! Aber, liebe Kleine, fuhr sie fort, wo haben Sie denn heute Ihre Klugheit, daß Sie mich auf solche Leute verweisen? Denn sehen Sie nur, auch Ihr Bruder will sich schon entschuldigen! Nicht nöthig, nicht nöthig, lieber Robert, ich weiß, daß Sie für eine Louise brennen, – da wird Ihnen schon werden, was Sie verdienen; nehmen Sie sich nur in Acht, daß, wenn das Feuer aus Mangel an Nahrung plötzlich erlischt, Sie nicht rathlos im Dunkeln stehen!

Brinkmann glaubte nun Raum für sich gwonnen zu haben und suchte ihn eifrigst auszufüllen. Er richtete seine Worte bald an Demoiselle Levin, bald an Madame Unzelmann, bald an beide zugleich. Er sprach mit seltener Fertigkeit, flocht Ernst und Scherz durcheinander, witzelte mit guter Laune; nur dünkte mir Alles, was er sagte, etwas zu redselig, er schien es selbst zu fühlen und wurde nur immer redseliger. Demoiselle Levin schien resignirt, ihn anzuhören, ich hörte ebenfalls zu, während Madame Unzelmann mit Schlegel nebenan ein halblautes Gespräch führte.

Ludwig Robert näherte sich und machte seiner Schwester leise Vorwürfe, daß der Abbé, der unleidliche Mensch, wieder da sei. Du bist einzig! sagte sie mit rascher Aufwallung, als wenn er meine Liebhaberei wäre! Will ich nicht verzweifeln, wenn er eintritt? Weine ich nicht, wenn er ewig dableibt? Hast Du vergessen, wie ich zittere, wenn man ihn nur nennt? Aber was soll ich machen? Wegweisen kann ich ihn nicht und auch soll ihn bei mir Niemand mißhandeln und verspotten, so wenig wie den Baron, der auch meiner ganzen Bekanntschaft verhaßt, mir selbst ein Gräuel ist und doch ewig kommt.

Warum rufst Du ihn aber auch? sagte Robert lachend, indem er nach der Thüre zeigte; und es trat wirklich in dem Augenblicke ein Herr herein, dessen Ordensstern auf einen höheren Rang deutete; ihm folgten unmittelbar zwei Offiziere, die ich als Herrn von Schack und Herrn von Gualtieri begrüßen hörte. Der besternte Baron setzte die Wirthin offenbar in üble Laune, sie blickte die Gräfin neben ihr mit tragischen Blicken an; was sagen Sie zu dem Unglück? lag deutlich darin. Doch faßte sie sich gleich und sprach mit dem Unwillkommenen ohne Widrigkeit, noch Gleißnerei, ganz einfach und gut.

[S. 714]

Die Gesellschaft aber war in Bewegung gerathen, Brinkmann von seinem Platze verdrängt, und von demselben aus machte nun der Major von Gualtieri die Unterhaltung der Damen. In dieser seiner Verstoßung gesellte sich Brinkmann wieder zu mir, zog mich zum Fenster und wollte mir über die zuletzt Gekommenen nähere Auskunft geben.

– Vor Gualtieri, sagte er, nehmen Sie sich in Acht, er ist streitsüchtig und rechthaberisch, und in seinen Launen gar nicht zu berechnen. Die kleine Levin macht ein großes Wesen von seinem originellen Geiste, von seinem eigenthümlichen Verstande, ich aber muß bekennen, daß ich sie darin nicht begreife; mir gelingt es nicht, mehr in ihm zu sehen, als einen ungeschulten Sophisten, der sich mit den Leuten Alles erlaubt, was ihm einfällt. Ein ganz anderer Mann ist der Major von Schack, man weiß, wie man mit ihm dran ist und kann sich auf ihn verlassen. Sehen Sie auch nur die prächtige Gestalat, dieses ruhige und entschlossene und dabei moquante Aussehen! Er ist ein tapferer Offizier und vollkommener Edelmann, alles Tugenden und Untugenden dieser doppelten Bezeichnung sind in ihm vereint. Gelernt hat er Nichts, er spricht nicht einmal richtig deutsch, doch wer spricht das in Berlin? Aber dafür hat er die reichste Dosis Mutterwitz.

Hier unterbrach uns Schlegel, indem er sich beklagte, die Unzelmann habe von Kunst keinen Begriff. Ich bin, sagte er, mit meinen Bemerkungen über ihre bedeutendsten Rollen ganz bei ihr durchgefallen, sie hat mich gar nicht verstanden, hat mir die dümmsten Antworten gegeben, sie ist von keiner ihrer Rollen auch nur die kleinste Rechenschaft abzulegen fähig. Dies Letzte hatte Schack im zufälligen Annahen noch eben aufgeschnappt und antwortete sogleich: Ihr Herren Kritiker wollte auch zuviel! Die Unzelmann weiß Alles auf ihre Art, sie spielt’s und bringt’s auch leibhaftig vor Augen, und Ihr selbst bewundert sie darin; warum soll sie dasselbe nun auch auf Euere Art geben? Von der himmlischen Frau zu fordern, daß sie – pfui! – raisonniren soll, wie ihr, ist gerade so, wie von Euch zu verlangen, daß Ihr spielen sollt, wie sie, – ei, das wäre aber nicht pfui, sondern schön!

– Brav, brav, lieber Schack! rief eine Stimme hinter ihm; es war Demoiselle Levin, die aufgestanden und von unserm lebhaft [S. 715] heimlichen Reden herangezogen worden war. Schack, wie ein Ertappter, war einen Augenblick verlegen, aber nur einen Augenblick, und fragte dann munter: Hab’ ich’s gut vorgetragen, kluge Kleine? Nun, ich hatte nicht weit dran zu schleppen, denn, meine Herren, was ich eben gesagt, hatte ich den Augenblick vorher von dieser klugen Kleinen gehört, und da wollte ich gleich sehen, wie brauchbar es wäre, und ob Sie was dagegen sagen könnten! Unter launigen Scherzworten ging das Gespräch mit Schack weiter, wandte sich aber von Schlegel und mir ab und wir blieben beide am Fenster allein.

Mir gefiel die Fassung des Mannes in der kleinen Beschämung, und ich theilte meine Bemerkungen darüber Schlegeln mit. O, der hat noch ganz andere Fassung, rief dieser, und davon werden große Dinge erzählt! Was sagen Sie zum Beispiel von diesem Stück? Man gewinnt von einem Kameraden im Spiel eine große Summe, er bezahlt, ist aber ruinirt und schießt sich todt. Das Geld hat man am Morgen empfangen, die Nachricht vom Erschießen kommt am Abend, wie man wieder beim hohen Spiel sitzt und wieder große Summen gewinnt; man hört die Schreckensbotschaft, spricht ein bedauerndes: »So? hat er sich erschossen?« aus, aber ohne eine Miene weiter zu verziehen, und bemerkt gleichgiltig, wie viel Stiche man im Voraus habe, mit Eifer den neuen Gewinn verfolgend, unbekümmert, ob auch vielleicht diesem ein schreckliches Ereigniß ankleben werde. So war Schack, als Riedesel sich erschossen hatte. Sie mögen die ganze Geschichte abscheulich finden, ich will sie auch nicht vertheidigen, aber das müssen Sie gestehen, diese Fassung setzt eine Seelenstärke voraus, die in anderer Richtung die größten Heldenthaten gebären kann. Nun hören Sie aber gleich eine hübschere Geschichte. Eine Hofdame der Prinzessin Heinrich konnte eine Veränderung, die in ihr vorgegangen war, nicht verbergen; zuletzt hatte Schack, und offenbar genug, ihre Gunst gehabt. Die Prinzessin ließ also den Schuldigen rufen und hielt ihm sein Vergehen vor, wobei die Worte Verführung, Unschuld und dergleichen nicht gespart wurden. Nachdem sie ihn genug gescholten und er immer schwieg, glaubte sie ihn erschüttert und fragte mit gebieterischer Art, was er denn jetzt thun werde? Schack, den die Beredsamkeit der Prinzessin wenig gekümmert hatte, fühlte das Gewicht dieser Schlußfrage und erwiederte keck, doch ehrerbietigst, er wolle fürerst noch warten, um zu sehen, was [S. 716] denn die Anderen thun würden. Die Prinzessin wurde roth in die Augen vor Zorn, brach die Unterredung ab und ließ den Schalk seiner Wege gehen. Ich mußte die kaustische Energie dieser Geistesgegenwart anerkennen, jedoch abermals bedauern, daß so schöne Gaben sich im üblen Stoffe verschwendeten.

Unterdessen hatte sich die Gesellschaft durch einige Frauenzimmer vermehrt, mit denen auch Brinkmann sich gleich zu thun machte. Sie gehörten zum Hause; die eine nahm sich des Theemachens an, der anderen wurde ich vorgestellt, sie war die Schwägerin der Demoiselle Levin, mit der sie übrigens keine Geistesverwandtschaft zeigte. Um so mehr fiel mir die liebevolle und sorgsame Art auf, mit der diese sie behandelte, in das Gespräch zog und ihre unbedeutenden Aeußerungen geltend machte. Brinkmann, der wieder zu mir getreten war, sagte mir, das sei kein Wunder, seine vortreffliche Freundin habe so viel Geist, daß sie dessen von Niemanden verlange und mit anderen guten Eigenschaften zufrieden sei. Zudem aber hege sie die stärkste und zärtlichste Zuneigung für ihre ganze Familie, darin sei sie die echte Orientalin, für die Mutter, die in der That eine äußerst gute und würdige Frau sei, für die Geschwister; besonders aber liebe sie leidenschaftlich zwei kleine Nichten, Töchter dieser Schwägerin.

Er schilderte mir mit wenig Worten die Brüder; der jüngste war in der weiten Welt, von den beiden anwesenden war mir der ältere als Kaufmann angegeben worden, er benahm sich zurückhaltend und abgemessen, gefiel mir aber nicht; der jüngere hingegen, Ludwig Robert, zeigte ein bequemes Dasein, eine lässige Gleichgiltigkeit, die gesellschaftlich einen angenehmen Eindruck machte; seine Physiognomie war bedeutend, der scharfe Denker und Beobachter blickte fest aus der Lässigkeit hervor. Beide Brüder machten zu der herzlichen Wärme und edlen Freiheit der Schwester ein um so stärkeres Gegenbild, als ihr besonders für diese Brüder eine stets thätige und beinahe zärtliche Sorge immer anzumerken war.

Das Gespräch wurde sehr lebhaft und wogte, zwischen den Personen wechselnd, über die mannigfachen Gegenstände hin. Ich wäre nicht fähig, die raschen Wendungen und den verschiedenartigen Inhalt hier wiederzugeben und wage den Versuch nicht. Man sprach vom Theater, von Fleck, dessen Krankheit und wahrscheinlich nahen [S. 717] Tod man allgemein beklagte, von Righini, dessen Opern damals den größten Beifall hatten, von Gesellschaftssachen, von den Vorlesungen August Wilhelm Schlegel’s, denen auch Damen beiwohnten. Die kühnsten Ideen, die schärfsten Gedanken, der sinnreichste Witz, die launigsten Spiele der Einbildungskraft wurden hier an dem einfachen Faden zufälliger und gewöhnlicher Anlässe aufgereiht. Denn die äußere Gestalt der Unterhaltung war, wie in jeder anderen Gesellschaft, ohne Zwang und Absicht, Alles knüpfte sich natürlich an das Interesse des Augenblicks, der Person, des Namens, deren gerade gedacht wurde. Vieles, was in Anspielungen bestand und irgend eine Kenntniß voraussetzte, entging mir ganz, Anderes wenigstens theilweise. Doch wenn Friedrich Schlegel seine Meinung sagte, zwar mühsam und unbeholfen, aber auch tief und gediegen, in der eigenthümlichsten Werkstätte geschmiedet, so fühlte man gleich, daß hier kein leichtes Metall ausgegeben werde, sondern ein schweres und kostbares; wenn Schack, leicht erzählend, manche Personen, die durch Rang und Weltstellung bedeutend waren, in pikanter Weise schilderte, wenn er kleine Bemerkungen geschickt einschob, so waren die Vertrautheit und Uebersicht unverkennbar, mit denen er eine unendliche Erfahrung großweltlichen Lebens spielend behandelte. Die Heiterkeit und Laune der Madame Unzelmann wirkten unaufhörlich belebend ein. Ludwig Robert und Brinkmann erwiesen sich als echte Gesellschaftskinder. Alle waren auf natürliche Weise thätig, und doch Keiner aufdringlich, man schien eben so gern zu hören, als zu sprechen. Am merkwürdigsten war Demoiselle Levin selbst. Mit welcher Freiheit und Grazie wußte sie um sich her anzuregen, zu erhellen, zu erwärmen. Man vermochte ihrer Munterkeit nicht zu widerstehen. Und was sagte sie Alles? Ich fühlte mich wie im Wirbel herumgedreht, und konnte nicht mehr unterscheiden, was in ihren wunderbaren, unerwarteten Aeußerungen Witz, Tiefsinn, Gutdenken, Genie oder Sonderbarkeit und Grille war. Kolossale Sprüche hörte ich von ihr, wahre Inspirationen, oft in wenigen Worten, die wie Blitze durch die Luft fuhren und das innerste Herz trafen. Ueber Goethe sprach sie Worte der Bewunderung, die Alles übertrafen, was ich je gehört hatte.

Ludwig Robert wurde aufgefordert, seine neuesten Gedichte mitzutheilen. Er ließ sich nicht lange bitten und las ein Paar Elegien [S. 718] mit vielem Ausdruck vor. Sie ahmten den Ton der Goethe’schen sehr glücklich nach, hatten aber ihren eigenen Inhalt. Nur Friedrich Schlegel verzog die Miene und stimmte nicht in den Beifall ein. Auch Demoiselle Levin selbst, trotz des augenscheinlichen Eifers, den Bruder zu begünstigen, litt etwas bei dieser Vorlesung und verbarg zuletzt ihre Ungeduld nicht. Ich erlaubte mir, sie über die Richtigkeit meiner Wahrnehmung heimlich zu befragen. Sie sah mir ehrlich und gerade in’s Gesicht und sagte lebhaft: Sie haben recht gesehen; es ist mein Tod, mir vorlesen zu lassen; ich habe es nie geliebt, aber oft kann ich’s besser aushalten.

Durch Vermehrung des Besuchs – zwei Spanier, Graf Casa–Valencia und Chevalier d’Urquijo, beide Diplomaten, waren gekommen, – ließ der Vorleser sich nicht irren. Aber nach Beendigung eines Gedichts, welches vielleicht nicht allgemein verständlich gewesen, verlangte Madame Unzelmann, der Dichter solle doch Komisches und Witziges mittheilen, dessen er ja den größten Vorrath habe. Der lieblichen Frau war nicht zu widerstehen, ihrem anmuthigsten Gesuche aber trat Gualtieri mit der ungestümsten Forderung bei. Ich weiß es ja, lieber Robert, rief er aus, Sie haben auf uns Alle ganz wunderschöne Spitzverse gemacht, auch auf mich ganz allerliebste, thun Sie mir den Gefallen und lesen Sie die vor, ich will sie hören, ich kann Alles hören, nur ohne Scheu heraus damit!

Robert las im Stillen für sich einige Blätter, lachte und entschuldigte sich, es ginge doch nicht. Nur um so heftiger drang man in ihn; Alle betheuerten, sie wollten Nichts übel nehmen. Schon wollte er lesen, da verbat es seine Schwester; sie wolle dergleichen nicht leiden, sagte sie, es sei ein schlechter Spaß und es verletze insgeheim doch Jeden, sich in seiner Eigenheit verspottet zu sehen, Niemand dürfe das fordern, Niemand es gewähren. Aber Nichts half. Die erregte Tadellust wollte ihre Beute. So wurde denn Einiges gelesen, was großen Beifall erwarb; Schack, die Unzelmann, Schleiermacher, Wilhelm von Humboldt kamen ganz leidlich weg, einige andere Personen weit schlechter. Das Hauptverdienst dieser Verse war, außer der treffenden Charakteristik, die artige Künstelei, daß die Anfangsbuchstaben der Zeilen jedesmal den Namen bildeten. Gualtieri bestand darauf, sein Akrostichon zu hören. – Nur Geduld, versetzte [S. 719] Robert, Sie sollen befriedigt werden und sogar doppelt, denn Ihren Namen habe ich zweimal akrostichirt. Hören Sie denn:

 

»Glatt, doch unwahr nie, und säß’ er an fürstlicher Tafel;

Unrecht scheuend, behauptet er oftmals dennoch das größte,

Arglos, kühn und geschickt, bethört im eigenen Scharfsinn;

Listig weicht er sich aus, doch stark auch faßt er sich wieder.

Trau’ ihm in seinem Gemach, hier darfst Du, darf er sich trauen,

In der Gesellschaft ist Krieg, und dann er Soldat und Gesandter.

Einigen wird er sich nur mit dem, der immer ihm beistimmt;

Redend herrschet er dann; doch läßt er auch kindlich sich leiten, –

Ja so lebt er, ein Räthsel, gehaßt und geliebt und gefürchtet!«

 

Die Bezeichnungen müssen treffend gewesen sein, denn die einzelnen Zeilen und Worte empfingen den größten Beifall; nur Gualtieri stand unbewegt, als wenn er gar nicht wüßte, von wem die Rede sei. Als die Anderen aber ihn anriefen und scherzend um sein Urtheil baten, fuhr er aus dem stummen Nachdenken auf. Das verstehe ich nicht! rief er. Lesen Sie doch das zweite, vielleicht ist das deutlicher! – Schärfer gewiß, erwiederte Robert, und las:

 

»Glaube, Dir glaubt er Nichts, doch glaubt er Alles sich selber;

Undankbar stets denkt er, er danke nur Alles sich selber.

Alles scheint er zu lieben und liebt nur den Schein und sich selber,

Laut im Streit und nicht lauter, so schreit er und hört nur sich selber.

Tiefes Gefühl bleibt tief ihm verborgen, er fühlt nur sich selber.

In Verlegenheit bringst Du ihn nie, doch oft er sich selber.

Ehre ist ihm das Erste, drum ehrt er auch ehrlich sich selber,

Reizbar ist er und reizend und reizt auch öfters sich selber,

Jahrlang könnt ihr ihn tadeln, es hilft Nichts, er tadelt sich selber.«

 

Der gesellschaftliche Applaus wird oft durch Kleinigkeiten unmäßig; ich sah es hier. Komisch und spannend war nur Gualtieri’s Gegenwart. Er fühlte sich mehr geschmeichelt, als beleidigt, mehrmals hatte er gelächelt, mehrmals sein »Gut gesagt!« dazwischen geworfen. Als aber das Stück zu Ende war, wurde er doch wieder nachdenklich und rief wie verwundert: Aber Sie machen mich ja ganz zum Egoisten! Dann nahm er den Dichter langsam unter dem [S. 720] Arme, zog ihn bei Seite und sagte: Hören Sie mal, lieber Robert, was denken Sie sich denn unter einem Egoisten? Ich hoffe doch nichts gar zu Schlechtes? Und wenn ich nun ein Egoist bin, was ist damit gesagt? Nein, das müssen Sie mir genauer auseinandersetzen, darüber müssen wir umständlich reden; denn sehen Sie, wenn ich mich selber fühle und kenne und ehre, so heißt das doch noch nicht – und somit führte er ihn ins Nebenzimmer, sich in Prosa nochmals vortragen zu lassen, was er in Versen schon zur Genüge sollte vernommen haben. Der will aus dem Regen in die Traufe, sagte Demoiselle Levin, und »Gutnacht!« rief sie den Abgehenden noch freundlich nach; wirklich kamen sie nicht mehr zum Vorschein.

Demoiselle Levin erklärte sich ernstlich gegen solche geist- und kunstreichen Spiele, wie überhaupt gegen alle persönliche Satyre, Parodie und Travestie, als gegen einen Mißbrauch der Dichtkunst; Alles dies, meinte sie, trage etwas Böses in sich, das zuletzt nur gemeiner Schadenfreude diene; einen großen Unwillen und Zorn, eine heftige Bitterkeit, ein tief einschneidendes Charakterisiren aus Einsicht und zur Einsicht, das Alles begreife und respectire sie, wo ein innerer Drang es durchaus gebiete, oder wenn wirklich anmuthige und unbezwingliche Laune das Gehässige wieder aufhebe.

Schlegel, der sich solcher Vergehen gegen Schiller schuldig wußte, stellte die Xenien als Einwand auf; allein die rasche Gegnerin versetzte: Das Beispiel spricht gerade für mich, wenn Sie die anführen, stehen Sie schon auf meiner Seite. Denn wo ist wohl der Zorn gerechter, der Unwillen edler, der Witz lebendiger, als eben in den Xenien? Ueberdies sind Goethe und Schiller – nun ja Goethe und Schiller.

 

[S. 735]

 

Rahel Levin und ihre Gesellschaft.

(1801.)

Aus den Papieren des Grafen ****

 

II.

Meyern, der Verfasser von Dya–Na–Sore. – Eine Diversion. – Gentz und Schlegel. – Amor. – Prinz Louis Ferdinand. – Radziwill’s Jagd. – Nachtmusik. – Rahel über ihre Gesellschaft und sich. – Gentz und seine Gläubiger.

 

 

Es waren zwei Fremde gemeldet worden. Demoiselle Levin empfing sie höflich, aber in Haltung und Ton war die feine Linie nicht zu verkennen, durch welche sie vielleicht unbewußt ausdrückte, daß es nicht vertrauliche Bekannte waren, mit denen sie sprach. Es war ein Graf aus Wien, ich glaube ein Graf ****, sein Begleiter aber hieß Meyern und wäre mir unter diesem Namen leicht entgangen, hätte mir Brinkmann nicht gesagt, daß er der Verfasser des merkwürdigen Buches Dya–na–Sore sei, der aber jetzt weder Romane noch Indien, sondern nur Krieg und England und Bonaparte im Kopfe trage. Ich hatte früher in diesem schmerzlichen Roman geschwelgt und seine sehnsüchtigen Liebes- und Vaterlandswünsche innig mitempfunden, um so mehr wünschte ich nun den Mann selbst kennen zu lernen, dem es gelungen war, die großen Drangsale der nächsten Wirklichkeit in eine entlegene Dichtungswelt hinauszutragen. Allein es war unmöglich, mehr als ein gewöhnliches Höflichkeitswort aus ihm zu locken, er schwieg sogleich wieder und sah nur immer beobachtend und prüfend auf die Personen hin, die gerade sprachen. Ich vernahm später, er habe es sich zum Gesetz gemacht, als Oesterreicher sich in Preußen möglichst verschlossen zu halten.

Mittlerweile hatte die Gesellschaft sich mannigfach in verschiedene Gesprächrichtungen abgezweigt, die nur selten auf Augenblicke zu [S. 736] einer allgemeinen zusammenflossen, wenn etwa eine Behauptung, ein Scherz, ein Witz lebhafter ausbrach und größeren Antheil weckte. Die Gesellschaft war zu zahlreich und zu belebt, um sie noch in einer Einheit zusammenzuhalten und zu leiten; die Wirthin konnte Nichts thun, als auch ihrerseits mit Einzelnen anknüpfen, aber ich bemerkte wohl, daß sie hierbei stets aufmerksam blieb und immer da einzuwirken wußte, wo Stockendes zu beleben, Mißliebiges abzubrechen, Störendes auszugleichen, Angenehmes zu vermitteln war. Auch meine vergebliche Bemühung mit Meyern war ihrem scharfen Blicke nicht entgangen, und ein Wort von ihr hatte Herrn von Schack bestimmt, durch eine Frage über Wien den schoffen Mann zugänglich zu machen, der aber auch diesmal seine Antwort so kurz als möglich einrichtete.

Mit Wohlgefallen sah die Wirthin den Abbé und den besternten Diplomaten in abgesondertem Gespräch ganz vertieft. Schack begegnete ihr in diesem Bemerken, sie winkte ihm, und ich hörte, daß sie ihm auf den Vorwurf, warum sie ihm nicht erlaubt habe, den Kerl wegzubeißen, voll sanften Eifers antwortete: Ist es denn so nicht besser? Welch Vergnügen, zu sehen, wie die Beiden sich für uns unschädlich machen! Einer schluckt den Andern ein, und ich wette, sie suchen sich bald lieber anderswo auf, und wir sind sie los.

Ich weiß nicht, wer sich erlaubte, einen in ein ziemlich schmuzziges Gewand gekleideten Witz vorzutragen; Niemand wollte lachen, und betroffen über die Unziemlichkeit schwiegen Alle. Doch Demoiselle Levin, die wieder auf dem Sopha Platz genommen, duldete die Pause nicht, in welcher die Unart sich gleichsam fortsetzte; schnell übersah sie das Terrain und lös’te die eigene und fremde Verlegenheit, strafte und beseitigte die Ungebühr, indem sie plötzlich aus aller Menge unerwartet meinen Meyern mit den Augen fassend und ihm das Wort zuwendend, mit dem Ausruf: Ich weiß auch Saugeschichten! eine noch stärkere, aber schon dadurch unschuldigere Derbheit einleitete und dann unvergleichlich rasch und komisch eine französische Anekdote, ich glaube nach Chamfort, sehr glücklich und schicklich erzählte, mit solcher Anmuth und Gewalt, wie ich Aehnliches nur noch einmal in meinem Leben, viele Jahre später, von der Frankfurterin B– leisten sah! Alles fühlte sich wie befreit und lachte aus vollem Herzen. Niemand aber mit solchem Vergnügen und Abandon, wie mein störrischer Meyern; laut und heftig fing er immer auf’s Neue an, so daß es die Andern auch immer wieder mit fortriß. Noch eine ganze Zeit wiederholte er sich die Worte: Ich weiß auch Saugeschichten! und lachte mit größtem Behagen, bis nach und nach der beobachtende Ernst in seinen Mienen wieder die Oberhand nahm.

Mehrere der Damen und Herren hatten sich bereits entfernt und ich hielt es für schicklich, ebenfalls an den Rückzug zu denken; allein Brinkmann wollte davon Nichts hören und versicherte, daß es hier noch gar nicht spät sei, im Gegentheil würden noch einige Leute kommen, ja er hielt es nicht für unmöglich, daß noch zwei seiner angebeteten Freundinnen, die herrliche Freiin von A– aus Wien, – das Istermädchen, wie Demoiselle Levin sie nenne, – nach abgethanem anderem Besuche noch hier einsprächen.

Das Hereintreten eines Mannes, den der Zuruf: Guten Abend, Gentz! mir sogleich als den berühmten Publizisten zu erkennen gab, erregte einige Bewegung. Kaum habe ich so viel Schüchternheit mit so viel Dreistigkeit beisammen gesehen, wie im Aeußeren dieses Mannes vereinigt war. Mit zaghafter Unsicherheit prüfte er gleichsam die Gesichter und die Plätze und war nicht eher ruhig, bis er sie alle untersucht hatte. Ich als Fremder schien ihm wohl unbedeutend, die Andern erkannte er als Günstige, nur Friedrich Schlegel flößte ihm einen heimlichen Schauder ein, auch wählte er den diesem fernsten Platz. Behaglich und sicher zwischen Madame Unzelmann und seinem Beschützer Schack, knüpfte er mit Beiden gleich ein Gespräch an, das bald aber für Alle gemeinsam wurde. Er erzählte von seinem Mittage, er hatte bei dem Minister Grafen Haugwitz gegessen, dort Gesandte und Generale gesprochen, die neuesten Neuigkeiten aus London und Paris erfahren. Madame Unzelmann verbat aber alle Politik und verlangte nur solche Nachrichten, an denen auch sie Theil nehmen könnte. Ganz recht, mein Engel, erwiederte Gentz mit Lebhaftigkeit, auch wir sprachen am wenigsten von Politik, sondern von den Sitten, den Vergnügungen, von – ist Gualtieri nicht hier? – der Depravation, die sich wieder einfindet in Paris, von den Liebeshändeln, den Theatern, den Restaurateurs, – nicht wahr, das sind hübsche Gegenstände?

Schack, der kürzlich in Frankreich gewesen war und am Hofe des ersten Consuls Bonaparte der ersten dort erschienenen preußischen [S. 738] Uniform große Ehrenauszeichnung zugezogen hatte, richtete einige Fragen an Gentz, allein dieser antwortete wenig und schien durch Schlegel beunruhigt, der ihn stets finsterer ansah und seinen Widerwillen deutlich in seinen Zügen ausdrückte; die hingemurmelten Worte »feiler Schreiber, nichtswürdiger Freiheitsfeind« und andere solche Artigkeiten, welche dem damals revolutionair und republikanisch gesinnten Verfasser der Lucinde gemäß waren, erreichten zwar nicht des Feindes Ohr, aber die reizbare Seele desselben schien jeden bösen Hauch schon in der Ferne zu wittern.

Demoiselle Levin zog ihn aus der Verlegenheit, indem sie ihn nach einem Frauenzimmer fragte, das ihn lebhaft beschäftigen mußte, denn mit dem größten Feuer sprach er von dämonischem Reiz und eben solchem Charakter, die ihn entzückten und in Verzweiflung setzten; er klagte sich strafbarer Schwäche an, – aber, fuhr er fort, was kann ich dafür? Amor ist blind und wirft auch mir die Binde über die Augen.

– Nein, nein! rief Demoiselle Levin; in dem Punkte ändere ich die Mythologie. Amor ist nicht blind und hat keine Binde; im Gegentheil er löset jede, und die Liebe sieht klar und scharf; daß sie trotz Allem, was sie sieht, zu lieben fortfährt, das ist ihr höchstes Kennzeichen!

Gentz wollte den Satz bestreiten, gab ihn aber bald und immer mehr zu, und rief ihn dann als die wunderbarste Belehrung aus, die er fortan selbst ausbreiten und vertreten wolle. Wohl ist dieses Thema unerschöpft und unerschöpflich, sagte er, und Ihnen, Herzenskundige, kommt es zu, solche Wahrheiten auszusprechen, vor denen die Irrthümer ganzer Zeitalter, ja der Mythologien selbst, zusammenbrechen. Er fuhr in dieser Weise fort, sprach von dem Glück und Unglück der Liebe, von ihren Gründen und Bedingnissen ihren Wirkungen und Ausgängen; erst nur in kleineren Sätzen, die er noch conversationsartig an seine Nachbarn richtete, fragenweise, problematisch; allmälig entwand er sich diesem Bezug und Ton, nahm einen freieren Schwung, wagte kühnere und festere Behauptungen, und als er sich der Gesinnung und Bestimmung seiner Zuhörer völlig versichert halten durfte, öffnete er gleichsam alle Schleusen seiner Beredsamkeit, deren gewaltiger Fluß nun unwiderstehlich einherströmte und uns mit staunender Bewunderung erfüllte. Friedrich Schlegel [S. 739] und seine Lucinde hätten hier etwas lernen können. Gentz sprach mit Eifer und Wärme, mit Scharfsinn, mit Fülle, und ein solcher Wohlklang, ein solches Wogen der Worte, eine solche Folge glücklicher Ausdrücke, guter Zusammenfügungen, leichter Uebergänge, ein solches wirkliches Einnehmen und Bereden ist mir seitdem bei keinem Menschen wieder vorgekommen. Auch fesselte er jede Aufmerksamkeit und gewann jeden Beifall. Nur unsere Wirthin, welche die klugen vergnügten Augen fest auf ihn gerichtet hielt, rief bisweilen ein: »Recht, Gentz!« ein »Prächtig« oder »Bravo«, dann auch wohl ein »Warum nicht gar!« oder »O nein!« dazwischen. Die Anderen horchten schweigend. Ich wünschte mir Glück, von dieser so oft gerühmten und mir bis dahin immer etwas zweifelhaft gebliebenen Vortrefflichkeit ein so glänzendes und in dieser Art vielleicht einziges Beispiel so zufällig erlebt zu haben.

Noch war Alles gespannt und einzelne Funken sprühten noch, gleichsam verspätete Nachzügler des wallenden Feuerstroms, als eine neue Erscheinung auftrat, Prinz Louis Ferdinand. Die ganze Gesellschaft erhob sich einen Augenblick, aber gleich rückte und setzte sich Alles wieder zurecht, und der Prinz nahm seinen Platz neben Demoiselle Levin, mit der er auch unverzüglich ein abgesondertes Gespräch begann. Er schien unruhig, verstört, ein schmerzlicher Ernst umdüsterte sein schönes Gesicht, doch nicht so sehr, um nicht eine liebevolle Freundlichkeit durchschimmern zu lassen, die bei seiner hohen herrlichen Gestalt und freien gebieterischen Haltung um so wirksamer für ihn einnahm. Ich war vom ersten Augenblick bezaubert; einen so günstig ausgestatteten Menschen hatte ich noch nicht gesehen; ich mußte mir bekennen, in solcher Person und in solcher Weltstellung durch das Leben zu gehen, das sei denn doch einmal ein Gang, der der Mühe werth sei! Solche Heldenfigur gibt in der That eine Vorstellung von höherem Geschlecht, Beruf und Geschick, und wirft in das, was bisher nur als Dichtung erschienen, ein lebendiges Zeugniß von Wirklichkeit.

Brinkmann vergötterte den Prinzen und sprach mit Liebe von seinen menschlichen Eigenschaften, mit Bewunderung von den in ihn gelegten Kräften, die ihn fähig machten, das Größte zu leisten, jeden Entschluß zu fassen, jede That zu vollbringen, zu der eine starke Seele nöthig. Doch leider, fuhr er fort, ist es auch sein Unglück, einen so [S. 740] hohen Beruf zu haben, den zu erfüllen, die Gelegenheit fehlt. Denn was soll er thun? Ein gleich großer, aber nicht so begünstigter Genius erränge sich erst eine Stellung und verwendete dazu seine Kraft; dieser aber hat seine Stellung und kann Nichts erstreben, als was gerade sie nicht zugesteht. Nur die Welt der Empfindung ist ihm noch übrig und offen, auch hat sein ganzes Wesen sich dahin geworfen, er liebt, liebt leidenschaftlich und unbefriedigt und stellt auch hierin wieder ein eigenthümliches und reiches Menschengeschick dar.

Der Prinz war aufgestanden und hatte sich die Fremden vorstellen lassen, nämlich die beiden Oesterreicher und mich, die Uebrigen waren ihm schon bekannt und zum Theil, wie Schack, Brinkmann und Gentz, völlig vertraut. Seine Leutseligkeit war vornehm und doch durchaus menschenfreundlich, ohne den Beischmack von Herablassung, der die Gnade der Großen meistentheils so ungenießbar macht. Auch wurde der Prinz durchaus nicht schmeichlerisch behandelt, die herkömmlichen Formen der Ehrerbietung fehlten nicht, allein außer diesen konnte ihn Nichts erinnern, daß er mehr sei als die Andern. Nach wenigen Augenblicken fand ich mich so unbefangen und behaglich in seiner Gegenwart, als hätte ich ihn schon Jahre lang gekannt. Ihn selber schien kein Zwang befallen zu können, er verfuhr und sprach, als ob er unter geprüften Freunden sei.

Diese Freiheit, sich überall ohne Scheu auszusprechen, war allerdings ein köstliches Vorrecht seiner hohen Stellung, aber um dasselbe auszuüben, war doch wieder er selbst erforderlich. Ihn compromittirte Nichts, weil er sich nie für compromittirt ansah. Was man ihm nachsagte, das kümmerte ihn nicht. In seiner Sphäre wagte sich Niemand an ihn, und eine fremde Macht, vor der ein Prinz von Preußen sich gebeugt hätte, gab es nicht. So sprach er ohne Zurückhaltung seinen Unwillen und Grimm gegen Bonaparte und gegen die freundschaftlichen Verhältnisse aus, welche die Höfe mit ihm unterhielten. Eine der Anklagen, die er gegen ihn vorbrachte, war in dem Munde eines Prinzen sonderbar; man war überrascht, jenem vorgeworfen zu sehen, daß er die Freiheit untergrabe!

Merkwürdiger noch, als in diesen Aeußerungen, erschien mir der Prinz in einigen anderen, welche hinter scheinbarer Zerstreutheit und Unaufmerksamkeit die feinste Beobachtung und tiefste Menschenkennt- [S. 741] niß verliehen. So sprach er von seiner Familie, von seiner Schwester, der dem Fürsten Anton Radziwill verheiratheten Prinzessin Louise, von seinem Bruder, dem Prinzen August, mit eben so großer Zuneigung als Offenheit, als ob uns Allen dieser Umgang und diese Einsicht wie ihm selber vertraut sein müßten. Seinen Schwager, den Fürsten Radziwill, schien er besonders zu lieben, die gemeinsame Liebe zur Musik wirkte hier mächtig ein. Er vermißte ihn und fragte, ob er schon da gewesen? Auf die Bemerkung, er sei wohl zur Jagd gefahren, lächelte der Prinz. Zur Jagd? wiederholte er, da kennen Sie meinen Schwager nicht. O ja, er fährt zur Jagd, wenn es sein muß, macht Alles mit; aber Alles, was er thut, thut er nur im musikalischen Sinn, und, zum Beispiel, auf der Jagd ist ihm an Wild und Beute Nichts gelegen, sondern seine Jagdlust läuft einzig darauf hinaus, daß er sich mit der Büchse unter einen Baum stellt und dann vor sich hin singt: La caccia, la caccia!

Die den Fürsten näher kannten, bestätigten eifrig das treffende Gleichniß und bewunderten nur, daß der Prinz, der so wenig Acht zu haben schien auf das, was um ihn vorging, zu dieser Auffassung habe kommen können.

Der Prinz nahm seinen Hut und schickte sich zum Fortgehen an, wir Alle thaten desgleichen, und eben wollten Brinkmann und ich als die Letzten dem Prinzen folgen, als auf der Treppe der Fürst Radziwill uns begegnete und unter freudigen Aeußerungen den Prinzen wieder zu dem Salon zurückführte.

Brinkmann aber und ich, wir gingen unseres Weges weiter.Als wir auf die Straße kamen, fanden wir den Himmel ausgestirnt, die Luft milde, und es gefiel uns, in der breiten Straße noch zu lustwandeln. Ohnehin war ich von dem erlebten Abend in großer Aufregung und fühlte das Bedürfniß, Manches auszusprechen und Vieles zu fragen, was mir aufgefallen oder nicht klar geworden war. Wer hätte mir hiebei besser dienen können, als mein Begleiter; wo wäre größere Bereitwilligkeit zu finden gewesen?

Wir waren etwas auf dem Gensdarmenmarkt umhergegangen, kehrten aber nun in die Jägerstraße zurück, wo der Wagen des Prinzen noch vor dem Hause hielt. In dem Zimmer oben war ein Fenster geöffnet, und Klaviertöne erklangen. Wir standen still und lauschten; der Prinz phantasierte mit genialer Fertigkeit, Demoiselle Levin [S. 742] und Fürst Radziwill standen mit dem Rücken gegen das Fenster, und wir hörten einigemal die Stimmen ihres Beifalls. Wie gern hätten wir die unsrigen hinzugefügt! Das Spiel des Prinzen war kühn und gewaltig, oft rührend, meist bizarr, immer von höchster Meisterschaft. Nach einer halben Stunde hörte er auf, bald nachher fuhr er mit seinem Schwager nach Hause. Die Uhr war halb eins. Auch wir gingen nun, und Brinkmann brachte mich zu meinem Gasthofe, wo mir aber die empfangenen Bilder und Eindrücke noch lange den Schlaf versagten.

Ich habe vergessen zu sagen, daß Ludwig Robert mich auf den nächsten Vormittag zu sich beschieden hatte, weil ich noch einige seiner Gedichte hören sollte. Es war schon gegen Mittag, als ich hinging, und ich glaubte, sehr spät zu kommen. Eine alte wunderliche Magd, die ich schon gestern unter all der großen Welt ein paarmal hatte wirthschaften sehen, führte mich zwei Treppen hinauf; allein die Thüre links, wo man bei Robert eintrat, war verschlossen und es hieß, der Herr schlafe noch. Während ich meine Bestellung zu machen bemüht war, öffnete sich aber die Thüre rechts und ich stand vor Demoiselle Levin. Sie entschuldigte ihren Bruder, der spät nach Hause gekommen sei, und hieß mich bei ihr eintreten, bis er aufgestanden wäre. Ich ließ mir den Wechsel gern gefallen. Eine freundliche Mansarde, bequem, doch ohne Luxus eingerichtet, empfing uns. Wir setzten uns dem schrägen Dachfenster gegenüber, wo ein Bild von Lessing an der Wand hing.

Wir sprachen von dem gestrigen Abend; ich bekannte ihr meine Begeisterung für Prinz Louis und sah, daß ihr meine Aeußerungen Freude machten. Sie hielt mich werth, einige nähere Aufschlüsse über ihn zu empfangen und erzählte mir Züge von ihm, die auch durch die Art, wie sie von ihr aufgefaßt und gedeutet wurden, Bewunderung verdienten. Sie war aber so entfernt von blinder Eingenommenheit, daß sie den Prinzen vielmehr hart und scharf tadelte wegen seines zerstreuten, aufgelösten Lebens, wegen seines Mangels an strenger, consequenter Thätigkeit und Einrichtung. Sie sagte vortreffliche Sachen über Stellung in der Welt, Pflicht, Beruf und über die Beding- [S. 743] ungen großen Wirkens. Besonders fiel mir auf, was sie von der leichtsinnigen Vergeudung der Zeit sagte, und noch nie hatte ich von einer Frau solche Anempfehlung des Fleißes und der Ordnung, als der Grundfesten jeden Strebens, gehört.

Aehnliches kam über Gentz zur Sprache, jedoch in sehr verschiedener Weise. Dann sprachen wir von Brinkmann, den ich gegen manche Urtheile, die ich über ihn gehört hatte, vertheidigen wollte. Aber Demoiselle Levin entriß mir diese Vertheidigung und führte sie kräftiger. Schwächen und Fehler! rief sie aus; wer hat die nicht, und wer sieht nicht leicht und scharf die fremden, wenn sie sich auch noch so sehr verstecken, um so mehr die, welche sich gutwillig und offen zeigen. Aber um’s Himmelswillen! lassen Sie sich das gesagt sein, denn es ist im Leben eine Hauptsache, rangiren Sie niemals einen Menschen nach seinen Gebrechen, sondern nach seinem Guten und Tüchtigen; dahin richten Sie den Blick, und je größer dieses ist, um so weniger dürfen jene gelten. Die Gemeinen machen es umgekehrt, und weil sie das thun, sind sie die Gemeinen. Sehen Sie Brinkmann’s regen Geist und offenen Sinn, seinen vielseitigen Eifer, seine schönen Talente, und dann seine treue, unzerstörbare Freundschaft, sein Bedürfniß der Anhänglichkeit; erwägen Sie, was er ist und leistet, und dann blicken Sie umher, wie wenige Menschen Sie von solchem Werth ersehen können. Hören Sie nicht auf die seichten Tadler! Die Besten wissen ihn wohl zu schätzen; fragen Sie Schleiermacher, fragen Sie Friedrich Schlegel, der so schwer Jemanden anerkennt, und von mir – denn ich darf mich auch zählen – hören Sie es schon, wie ich von ihm denke.

Ich war auf solchen Lobeseifer fast neidisch und fand ihn doch so schön und richtig. Nach einigen Zwischenreden konnte ich nicht umhin, Demoiselle Levin zu preisen, daß sie der Mittelpunkt eines solchen Kreises sei, wie ich ihn gestern um sie versammelt gesehen. Sie müsse sich sehr glücklich fühlen, sagte ich.

Aber kaum ausgesprochen, bereute ich das Wort schon. Die Saite, die ich berührt hatte, klang unerwartet heftig und schmerzvoll, und ich würde mich in großer Verlegenheit befunden haben, hätte ich nicht bald erkannt, daß ich doch nur unpersönlich bei den Aeußerungen dastand, die mir den Blick in das Innere des Gemüths eröffneten.

[S. 744]

– Wie Sie das nehmen! sagte sie wehmüthig, und ihre Worte richteten sich kaum noch an mich, sie gingen mehr als einsame Klagen in die Luft. Wie steh’ ich denn zu den Menschen allen? Persönliche Zufriedenheit habe ich von Keinem. Ihre Schmerzen, Kränkungen, Bekümmernisse und Sorgen bringen sie mir, ihr Bedürfniß nach Unterhaltung führt sie hierher, und glauben sie einmal anderswo eine bessere zu haben, so lassen sie mich gleich. Ich amüsire sie, helfe ihnen, höre sie an, tröste und berichtige sie. Insofern ich das will und muß, weil es in meiner Natur ist, gebe ich mir eine persönliche Satisfaction, aber die Andern emfpangen den ganzen Ertrag. Ich weiß, diese Menschen sind schwach, unterwürfig, lenksam; auch ich könnte sie mir verpflichten und dienstbar machen, blos durch den Anspruch, den ich zeigte. Aber ich verachte den Zwang der Höflichkeiten, die Formen von Freundschaften, die zu gesetzlichen Titeln von Leistungen werden müssen, denen ich aber keinen Werth beilege, wenn sie nicht ganz frei aus dem reinen Antrieb eines guten Herzens, also wie aus dem Himmel herab kommen, Die Andern aber machen sich diesen meinen Sinn zu Nutzen und haben die Rücksichten nicht, die ihnen nicht aufgezwungen werden. Nur die der gesellige Sitte fordere ich, denn die darf ich nicht erlassen, und wer diese verletzt, mit dem ist es aus bei mir. Mit meinem Besten aber stehe ich unbewaffnet allen Verletzungen da, und wie selten berührt ein Tropfen Balsam die Wunden, deren ich mich nicht erwehren kann. – Soll ich Ihnen noch mehr gestehen? Unter allen den Menschen, die Sie gestern bei mir gesehen, ist nur Einer, der mir eigentlich gefällt, – und diesen haben Sie wohl nicht einmal bemerkt.

Ich fühlte zu sehr, daß ich bei diesen Ausbrüchen nur zufällig dastand, und war zu bescheiden, sie zu beantworten. Auch lenkten die Betrachtungen gleich wieder in’s Allgemeine, und es kam die bedenkliche Paradoxie an den Tag, daß zwischen geistreichen und dummen, gebildeten und verwahrlosten Menschen, ja zwischen tugendhaften und sittenlosen, sofern hierdurch nur eine Thatsache und nicht ein Princip bezeichnet werde, im Grunde nur ein geringer Unterschied walte; daß aber der zwischen ursprünglichen, selbständigen und secundären, untergeordneten, ein ungeheuerer, nie zu ermessender, noch zu tilgender sei.

[S. 745]

Der Eintritt eines Grafen zur Lippe brachte uns anderen Gegenstand und Ton. Noch weiter entführte uns von jener früheren Bahn eine Ueberraschung, die an das Komische grenzte, denn unerwartet stürzte, aber buchstäblich stürzte Gentz in das Zimmer, und ohne auf uns beide Fremde die geringste Rücksicht zu nehmen, warf er sich auf das Sopha und rief wie außer sich: Ich kann nicht mehr! Welche Müdigkeit! welche Qual! Die ganze Nacht geschrieben, gesorgt; seit fünf Uhr verdammte Gläubiger; wo ich hinkomme, treten sie mir entgegen; sie hetzen mich todt, nirgends Ruhe und Rast. Lassen Sie mich eine halbe Stunde in Sicherheit hier schlafen! Der große Redner von gestern, der gewaltige Schriftsteller und Staatsgelehrte erschien in bedauernswürdigem Zustande. Aber schon lag er und hatte die Arme verschränkt und die Augen geschlossen; der süßen Ruhe, die er begehrte, schien er in seinem Innern vollkommen fähig, sobald sie nur von außen nicht gestört wurde.

Demoiselle Levin, deren tiefes Mitleid doch einem Lächeln nicht wehrte, gönnte dem Armen den schon in Besitz genommenen Raum und führte uns zu den unteren Zimmern hinab. Sie ließ uns hier mit ihrem Bruder, der inzwischen sichtbar geworden war, und der mir aus dem reichen Vorrathe seiner Gedichte Vieles mittheilte, was sich meist auf die Gesellschaft bezog, und wobei die Anmerkungen und Erklärungen mir oft anziehender und wichtiger waren, als die Gedichte selbst.

Ich sah Demoiselle Levin noch mehrmals wieder, und jedesmal vertrauter und herzlicher. Als ich leider allzubald Berlin verlassen mußte, glaubte ich zugleich dasjenige Wesen zu verlassen, dessen Gleichen mir in der Welt wohl am wenigsten ein zweites Mal vorkommen dürfte! Und dieser Glaube ist nicht widerlegt worden.

Im nächsten Jahre kam ich wieder auf einige Zeit nach Berlin und beeiferte mich, jenen Umgang wieder anzuknüpfen. Ich fand dieselbe gütige Aufnahme und größtentheils noch denselben Gesellschaftskreis. Doch fehlten Friedrich Schlegel und Gentz; Ersterer war nach Paris, Letzterer nach Wien gegangen, jeder in sein Element. Prinz Louis war nur leidenschaftlicher und zerstreuter; ich [S. 746] sah die Geliebte, die ihn beschäftigte und quälte, und mußte gestehen, sie hatte unendlichen Reiz und eine bezaubernde Originalität in Allem, was sie that und sprach.

Demoiselle Levin war antheilvoll und eifrig für ihre Freunde, wie sonst. Sie selbst schien zu leiden. Ihr Geist, ihre Lebensmunterkeit aber walteten in aller Kraft und Frische eines erhöhten Daseins.

 

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