Rahel Varnhagen von Ense, geb. Levin

Auszüge aus:

Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde.

[Hg. v. Karl August Varnhagen von Ense.]

Dritter Theil.

Berlin: Duncker und Humblot 1834.

 

[S. 93]

Wenn Eltern oder Kinderpfleger etwa bis zum dritten Jahre ihren Zöglingen so gerne Züge von Verstand, Auffassungsvermögen, einer Art von Witz, kleiner List oder auch nur des Gedächtnisses, nacherzählen, so ist das nicht nur aus Eitelkeit, oder Vorliebe für ein bestimmtes Kind. Es ist weit mehr das mit Recht wiederkehrende Erstaunen, der unergründliche Zauber, das Wunder eines erwachenden Erkenntnisses! Wo beginnt es, wo kommt es her? Das möchten wir immer von neuem wissen, von neuem belauschen; und nie [S. 94] kann das aufhören, unsre Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen, und uns in Kindergestalt, als Unschuld, zu rühren, zu erfreuen und zu gefallen; und in diesem Fall scheint sich ein reineres Interesse in Eitelkeit zu kleiden, wie diese so oft sich das Ansehen höherer Motive giebt.

Freitag, den 18. April 1823.

–––

Montag, den 21. April 1823.

Felix spielte uns gestern Abend vortrefflich vor; Etudes von Kramer, und oft kamen mir die Thränen in die Augen: als er mit einer Art Meisterstück von Spielen aufhörte, sagteich leise zu Robert: Er ist doch so glücklich, und ich möchte ihm doch noch so gerne etwas anthun! "Gar nicht!" erwiedert Robert. – Wie so? sage ich. – "Er müßte uns noch um Verzeihung bitten!" – Warum, frag' ich wieder. – "Weil wir das nicht können, was er kann."

 

 [S. 338]

In einem Stammbuch.

 

Möcht' ich doch schier verkehrten Rath dir geben,

Der paßt für das verdrehte Leben;

fand ich vor langer Zeit in einem Buche: es fiel mir auf, weil ich es nicht ganz verstehen konnte. Aber: wird dem Edlen nicht willfahren? Werden große leere Ansprüche nicht meist erfüllt? Gelingen nicht die dümmsten Pläne? wird Bescheidenheit nicht vergessen; bleibt sie nicht unbeachtet? Ist irgend ein Ereigniß zu berechnen? Herrscht nicht der Hartherzige, der Strenge? Rechnet Einer in der ganzen Natur unsre Leiden, unsre Opfer? Behalten wir sie nur selbst im Gedächtniß? Scheint nicht alles verdreht, bis wir es umgekehrt?

Jetzt las ich wieder in einem Buche:

Es ist nichts zu verändern hier auf Erden,

Wir selbst nur, wir müssen anders werden.

Dieser Spruch half mir den ersten verstehn: und vielfältigen Gewinn erlangt' ich dadurch in mir: an diesem wüsnch' ich Ihnen Antheil, darum erhalten Sie diese Zeilen von mir. –

1828.

 

[S. 1]

***

Aus einem Tagebuch.

Sonnabend, den 1. Januar 1820.

Fr. von S–: gelebt, gelesen, geschliffen, klug, gehemmt, krank erfahren, und artig. Die Tochter: artig angelebt, beredt. Mich dünkt aber, nicht aus ihrer Natur heraus gebildet. Der Grund dieser Natur gefällt meiner nicht. Sie ist zu loben, und angenehm; und nicht affektirt, oder unnatürlich in ihrer Äußerung. Nur kommt es mir vor, ihre eigenste Natur ausgebildet, wär's ganz ein anderes Mädchen: so sehen die Grundzüge ihres Gesichts aus, und ihre ganze Komplexion, die auch schon gelitten zu haben scheint. Nicht allein die größten Glücksumstände gehören dazu, der Menschen eigenste Anlagen hervorzubilden, und in Harmonie zu bilden: sondern, den meisten Menschen werden ganz faktice angebildet, und sie haben nicht so kräftige Eigenschaften, auch nicht Einmal ein paar in Harmonie thätige, um der Erziehung der Eltern oder der Umstände zu widerstehen; sondern sie bleiben embryonisch monsterhaft mit den verkrüppelten, verwesten, sparsam gestreuten schwächlichen Naturanlagen verwickelt zum Stoffe der [S. 2] traurigsten widrigsten Betrachtung in der Welt. Mir eine häufige Erscheinung, und höchst tragisch, vielfältig tragisch.

[...]

[S. 5]

Sonnabend, den 8. Januar 1820.

– Ich affektire nichts. Verberge mein Bestes; und meine Krankheit. Dore sieht es nur; unsichtbare Geister; Gott, mein ewiger Zeuge. Kolossal zwinge ich mich, und kann ich mich zwingen. Das Körperchen aber geht doch nun in sein Alterchen dahin, und immer dahin. Ich ließe es ge- [S. 6] hen, wenn es nicht schmerzte; und schweige, wenn's nur möglich ist. Bin leicht vergnügt, und sehr ruhig; aber – laßt mich nur ruhig, oder gebt mir Arbeit: natürliche. Nur keine Verlegenheit! Entbehrung gerne!

[...]

Februar 1820.

– Nachher lobte er Undine, und mehrere kleine Gedichte von Fouqué: ich den Schlangentödter, besonders das Vorspiel. Es ist doch ganz unbegreiflich, daß grade Undine so viel Aufsehen gemacht hat, und nun wieder Mlle. de Scudéry von Hoffmann so viel erregt. Beide Piecen tragen ihren Wurm von Haus aus in sich: ihren eigenen Tod. Der Plan ist den Autoren nicht klar geworden. Undine werde ich überlesen: soviel weiß ich, daß ich, als ich's las, drei verschiedene Pläne in dem Mährchen fand, die nicht in einander, sondern widersprechend auf einander wirken. Wie kann Liebe mitsprechen, und eine Rolle spielen wollen, wenn erst von Seele die Rede ist; von diesem wichtigsten, furchtbaren, metaphysischen Stück, , vor welchem Gedanken alle Liebe zertrümmert! Nach welchem Aufbau, Annahme oder Vorfinden sie erst möglich wird. Das ist wie Kinderzeugen, wenn der menschliche Körper noch in der chemischen Kammer der Natur producirt werden sollte. Das dritte Element dieses Mährchens habe ich vergessen: ich glaube, es war Vatersorge, oder Kindesliebe. Jedes von denen hätte allein Stoff zu einer berühmten Fiktion werden müssen; auch vergriff sich Fouqué nur. – Hoffmanns Scudéry ist nun gar der Gerichtsstube – um das Edlere vom [S. 14] Gericht zu nennen – nahe geblieben, und "soviel Worte, soviel Lügen!" Da blühen die Unwahrscheinlichkeiten und Widersprüche nur so, auf einem eignen Felde, das wenigstens voller Diktion stehen sollte: die man aber ganz vermißt. Ludwigs XIV. Zeit ist ganz willkürlich gewählt, da nichts als zwei Namen, die der Damen Maintenon und Scudéry, beibehalten sind; und die einiger Straßen. Die Leute sprechen bei St. Denys, und nicht bei dem König der Schicklichkeit, dessen Gesetze darüber noch gelten. Seine Polizei ist, in den wichtigsten Fällen von Raub und Mord, wovon der erste sogar Henriette von England betrifft, die schlechteste von der Welt. Sie findet, trotz persönlichem Schreck, und Keuchen bei der Untersuchung des Hauses und der Nachbarmauer des Goldschmidts, nichts; obgleich uns Hoffmann nachher sehr Handgreifliches finden läßt. Mlle. Scudéry behält geduldig den reichsten Schmuck Frankreichs von einem sich toll gebärdenden Goldschmidt: und dies, im Zimmer der Mad. Maintenon vorgegangen, bleibt auch in Paris ohne alle Nachrede und Folgen, bei den größten Nachspürungen über Gift und Mord, und bei einem eigenen Tribunal zur Untersuchung dieser Gräuel. Der Pflegesohn der Mlle. meldet sich nie bei ihr, als wenn es Hoffmann nöthig hat! – Bei Ludwig XIV. geht man nur so in sein Konseil, wie an die Theaterkasse. Der gepanzerte Offizier spielt sein Stückchen allein; und meldet nur seinen gewonnenen Krieg der Dame, wenn es Zeit ist: keiner Polizei, keiner chambre ardente. Der Goldschmidt ist der größte Künstler, weil er ein Juwelenfresser schon im Mutterleib werden mußte. Wie hideux, krankhaft, unnütz, [S. 15] und ohne allen sittlichen Grund und Kampf eigentlich! wie ein Wasserscheuer, dem man das Beißen verzeihen muß. Wie die Mutter zu der fausse couche gekommen, ist wieder ein anderes Plaisir. Tel est le bon plaisir – von Hoffmann. Und vive l'auteur! schreit das deutsche Publikum. Nicht zum Verstehn. –

[...]

[S. 19]

Mittwoch, den 17. Mai 1820.

Natürliche Kinder werden die genannt, welche keine Staatskinder sind; wie Naturrecht, und Staatsrecht. Kinder sollten nur Mütter haben; und deren Namen haben; und die Mutter das Vermögen und die Macht der Familien: so bestellt es die Natur; man muß diese nur sittlicher machen; ihr zuwider zu handeln gelingt bis zur Lösung der Aufgabe doch nie; fürchterlich ist die Natur darin, daß eine Frau gemißbraucht werden kann, und wider Lust und Willen einen Menschen erzeugen kann. Diese große Kränkung muß durch menschliche Anstalten und Einrichtungen wieder gut gemacht werden: und zeigt an, wie sehr das Kind der Frau gehört. Jesus hat nur eine Mutter. Allen Kindern sollte ein ideeller Vater konstituiert werden, und alle Mütter so unschuldig und in Ehren gehalten werden, wie Marie. –

[...]

[S. 29]

Sonntag, Berlin, den 10. December 1820.

Julchen S. sagt: "Man kommt so stückweise um sich." Ich sage: "Man trägt sein Leben zu Grabe." Vielleicht lebt es Keiner. –

Es giebt eine oberflächliche, und eine tiefe Jugend!

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Wir verlieren alles, was wir lieben: am Ende das was wir kennen, das Leben.

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[S. 30]

Allmächtiger Gott sei uns gnädig! Lehr' uns, wie wir zu dir stehen!

[...]

[S. 33]

Januar 1821.

Man wundert sich so sehr, und beweist so stark, daß dem Adel die alten Vorzüge und Ehrerbietung nicht mehr wollen gestattet werden. Warum bemerkt niemand, daß es den Gelehrten (les doctes), den Doktoren eben so geht? Sonst war ein solcher ein vornehmer, verehrter Herr; ihm schrieb man Gelehrsamkeit wie Tausendkünste zu: man war überzeugt, es sei ein anderer Mann, als die, welche den Ehrentitel nicht erhalten hatten, und es war eine Beglaubigung. Jetzt ist es zu bekannt, daß eine Menge Leute gelehrter sind, als viele Doktoren. Die Welt schreitet wirklich fort, und der Punkt, worin dies Fortschreiten besteht, ist auch gleich das Zeichen davon. Kenntnisse, Vermögen aller Art, Bildung, wird, ist allgemein. Breitet sich aus: sagt man so oft, ohne an den buchstäblichen Sinn dieses Ausdrucks zu denken: der Ertrag der Völker breitet sich über die Erde. Das ist der Zeit Körper, möchte ich sagen; anstatt des schon mißlichen Wortes Zeitgeist. Die Folgerungen mag man nun ferner machen. Es glauben ja Viele und ich auch, die Geister machen sich Körper. Die Zeit ist ein Geist, und schafft sich ihren Körper.

[...]

[S. 40]

Unser innerster Wille ist wie eine Pflanze: einfach, bestimmt: aber ohne Wurzel in der Erde; unser Geist das Bewußtsein drüber, wie eine in uns mitgegebene Sonne.

[...]

[S. 41]

Sonnabend, den 21. April 1821.

Seit Kindheit an hatte ich eine Art von Furcht vor Uhren und vor Wasser in Teichen und Gefäßen, als Tonnen, oder Fässer; kurz, vor gefangenem Wasser. Heute fällt mir erst ein, daß dies nur zwei verschiedene Richtungen derselben Scheu sind, die auch nur einen und denselben Gedanken zum Grunde hat. – Ist es nicht sonderbar, daß man tiefer in sich, ohne Beleuchtung des Bewußtseins, klüger sein kann als im Hellen? – In den Teichen und Gefäßen ist eine Willenskraftdes Elements gefangen und eine Thätigkeit gehemmt; bei der [S. 42] Uhr eine Thätigkeit gebraucht. Bei der ist noch der weitere Gedanke, daß die Federkraft ein Keimchen zu einer Organisation ist, fürchterlich: wäre die Wechselwirkung von Feder zu Rad vielseitiger, so ging' es schon weiter. Das fiel mir heute ein, daß eine Uhr der erste Anfang von Organisation ist. Witziger Gebrauch von Kräften. Die wir so nennen, weil wir sie nicht kennen.

 [...]

 [S. 43]

Den 15. Juni 1821.

Eine Gerechtigkeit waltet schon hier auch Erden;

Daß die Gesichter all wie ihre Seelen werden.

 [...]

 [S. 44]

(Mündlich.)

"Ich mache zwar keine Prätensionen, aber ich habe darum nicht wenigere."

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Bei einem Streit über eine ganz unbedeutende Sache, wo aber die auffallendste Verkehrtheit sich geltend machen wollte: "Gott! rief Rahel leidenschaftlich aus, hast du denn keinen Donner mehr? und wenn es auch nur, um einer Kleinigkeit willen ist, schick' einen zum Zeichen!"

1821.

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Freitag, den 22. Juni 1821.

Sehr kalt. Viele Leute heizen ein; starker Regen.

Labruyere sagt: Il n'y a rien qui rafraîchisse le sang comme d'avoir su éviter une sottise. Buchstäblich wahr; indem man eine Thorheit begeht, weiß man es schon; erhietz führ man sie schon aus, und das Bewußtsein, es ist eine Thorheit, erhitzt noch mehr: und nachher die glückliche Erho- [S. 45] lung, ich bin ihr entgangen: "Eine auffallende Wahrheit", sollte man denken. Sie ist doch nur erst Labruyere aufgefallen.

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Sonntag, den 13. Juli 1821.

Wir machen keine neuen Erfahrungen. Aber es sind immer neue Menschen, die alte Erfahrungen machen.

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Noch nie hab' ich bereut, was ich gerne that: nur immer das, was ich schon mit Reue that.

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Weißt du, warum wir hoffen? Wir können nicht ohne Bild leben. Ihne Hoffen haben wir kein Bild in der Seele; da ist nichts.

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Er muß es ja leiden; was willst du ihn trösten!

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 (Mündlich.)

Vom Shakespeare:

"Er ist Leben im Leben; er kann fast nicht zur Betrachtung kommen, denn jede Betrachtung wird Leben; und doch ist er lauter Betrachtung.

den 21. Juli 1821.

[...]

[S. 57]

Zu einem ausgeschnittenen Bildchen.

In milder Nacht, bei hellem Mond, und sanfter Sterne Licht, in Blumenmitten, die freier athmen, und zu einander flüstern, was sie bei Tag verschweigen, oder was verhört nur werden mußte; wenn noch verspätet Schmetterlinge jagen, die Schnecke ihren Weg verfolgt; still eine Biene einholt, was sie Tags im Kelche lassen mußte; der Schlaf die Welt gefangen hält, und befreit: Weste nur leise sich, und schmeichelnd, zu den Ästen wagen, Vögelchen nicht zu wecken; Gräser und Halme Abendthau auf ihren Häuptern wiegen; das ganze Thal ein Fest der Sehnsucht und der Ruh; ein Tag für Elfen und für ihre Spiele; – fehlt nichts, als eines lieben Mädchens Gegenwart, ihr Aug' und ihre Brust, dies Fest zu überschauen und zu empfinden! Und was dem schönen Kinde nun noch mangelt, wird sie in Liedeston uns nun berichten. –

December 1821.

[...]

[S. 59]

Zum Unterscheiden kann sich jedes vernunftbegabte Geschöpf selbst erziehen: Eingebungen, schnelle Kombinationen, Witz u. s. w. sind Gaben: wenigstens erinnern wir uns des Prozesses, der Bemühung, der Thätigkeit dazu nicht; und genießen sie rein; wie Erbeutetes, in dessen Besitz der Krieg auch am Ende vergessen wird.

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Berlin, den 29. Januar 1823.

Ich habe jetzt Wilhelm Meisters Lehrjahre wieder gelesen. Wie ist es möglich, einen zweiten Don Quixote zu fassen, zu erfinden und darzustellen! Küßt euch, Cervantes und Goehte! Beide sahen mit ihren reinen Augen: vertheidigten das Menschengeschlecht; sahen den Ritter durch, durch seine Thorheiten und Irrsale, konnten ihrer Augen edlen Blick bis in seine tiefste Seele tauchen, und dort seine eigentliche Gestalt sehen. Wie jenem Don Quixote geht es Meistern; einen Narren nennen ihn die Leute "ohne Tadel," einen Herumtreiber, der sich [S. 60] mit nichts Wirklichem beschäftigt, der sich mit Bettlervolk abgiebt, nichts zuwege bringt; nicht einmal weiß, was er denken soll; der für einen Helden in einem Roman nicht einmal gut genug ist; von welcher Sorte man schon tausendmal bessere, bei den Fieldings aller Länder, gehabt hat, die doch noch ein Resultat geben! Während unser Weiser die edelste, reinste, ehrlichste Seele in ununterbrochenem Bemühen und Kampfe geschildert hat mit der Welt, wie sie leibt und lebt; ohne je einen Moment in ihre unreine Verwirrung zu gerathen; immer im Bemühen, sich zu tadeln und zu bessern; immer in der Unschuld, die Andern besser zu sehen, als sie sind, und meist sie sich vorzuziehen; immer aufgelegt zu lernen und nachzugeben, außer dem evident Unedlen: rührenderes, verehrungswürdigeres Benehmen, vortrefflichere Gesinnung, kann man nicht erfinden; und je mehr man ihn sich deutlich macht, je mehr ehrt und liebt man ihn, und Goethe'n. Don Quixote mußte mit eben solcher Seele eine – also eine einseitige – Eigenschaft, die des Ritters, wählen, und mußte sie in Ausübung bringen wollen. Meister mußte den ganzen Menschen ausbilden wollen; und mir ist's, als ob Goethe dem Cervantes nur die Feder abgenommen hätte, weil die Menschen sich in der Zeit folgen. Was die beiden Meister sonst noch in den Werken gelehrt und gezeigt haben, ist ihre Zeit: und das so rein und wahr, daß sich die künftigen gleich daran anschließen, für den Geschichtsblick, für wahre Augen überhaupt. –

[...]

[S. 64]

Gründonnerstag 1822.

Es ist ein Glück, daß die rechtschaffensten Leute oft im Umgang unausstehlich sind; sonst müßte man sich die größten Vorwürfe machen, minder bewährte Menschen so sehr liebenswürdig zu finden.

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Eigenthum? eigenthümlich? Unser Eigenthum ist nur das, was uns keiner nachmachen kann. Dazu gehört noch unser Sein.

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Alles andere Wissen, außer das, was in unserm innersten Wesen konstruirt ist, sind Materialien. Alle Wissenschaften eben so: sie sind ja nur eine zusammengefaßte Lehre, noch unbezogener Wissensfähigkeiten im Menschen.

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[S. 65]

Es ist ausgemacht, daß wenn wir keine Anlage – oder wie man's nennen will – von Sittlichkeit in uns hätten, wir mit der größten Anstrengung von Nachdenken nie auf ihre Anforderungen gefallen wären. Könnte ein persönliches Wesen je darauf kommen, daß es seine Persönlichkeit aufgeben, und die eines Andern höher stellen sollte, als seine eigene? Mich dünkt sogar, es ist schon eine hohe Stufe der Entwickelung, Person und persönlich zu sein. Nun kommt mir vor, wir können in in einem andern Zustand von Dasein noch eine schwerere Aufgabe in uns fühlen, die wir uns jetzt auch nicht vorzustellen vermögen. Und nur, daß wir dergleichen zu errathen vermögen, ist ein Schimmer vom Absoluten, allgemeinen, sich selbst begründenden Dasein; wovon die Stufen sich verlieren müssen für einen Geist; einen absoluten, der alles zugleich erschaut. –

[...]

[S. 68]

Sonnabend, den 18. Mai 1823.

Wissen ist eine Vorrathskammer, ein Vorrath; Wissen ist ein geistiges Haben. Durch Wissen ist man überzeugt: Liebe ist Überzeugung. –

–––

Richtig Eingesehenes und Ausgedrücktes in der Gegenwart, paßt zur Vergangenheit und Zukunft: und ist an diesem Zeichen sogar zu erkennen.

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In das Stammbuch zu Graupen in

Böhmen, 1822

Was hier ich seh, getreu berichten,

Das hieße wahrlich dichten.

[...]

[S. 72]

Den 2. November 1822.

Das Wort "Geist der Zeit" möchte ich außer Umlauf setzen können; es verwirrt entsetzlich. "Die allgemeine Überzeugung," möchte ich es nennen, was man im Guten damit zu bezeichnen denkt. Als man die vermeintlichen Hexen verbrannte; das war der Geist der Zeit: die allgemeine Überzeugung machte aber, daß dieser alberne Gräuel aufhörte. – Und so herrschen diese beiden sehr verschiedenen Zustände oft noch neben einander, wenn auch die allgemeine Überzeugung den Geist der Zeit immer verdrängen muß.

[...]

[S. 73]

Montag, den 5. November 1822.

Franzosen, Engländer, sonst die Spanier und Italiäner – und natürlich auch die alten Nationen – haben Nationalmeinungen, solche Gefühle, Ehre, Ehrgeiz, und Strebungen, die sich auf theils bleibende, theils eine große Zeit lang sich wiederholende gesellige Zustände beziehen; ihre Kunst, ihre Künstler und Dichter müssen sich auch darauf beziehen, wenn sie verstanden werden wollen, wie sie auch selbst darin befangen sind. Wir Deutschen klagen schon lange, und immer öfter darüber, daß unter uns die Dichter nicht auf Autorität verehrt werden. Diesen Übelstand können wir aber ertragen, wenn wir betrachten wollen, was wir eigentlich sind. Ein Volk nicht zu einer Nation abgeformt und geschliffen: der Menschheit, und also allen Nationen noch nahe; unser Dichter sieht sich in der ganzen menschlichen Welt nach Zuständen um; erhöht sie, denkt sie sich wie sie sein könnten, müßten, nicht nur wie sie sind, und sein können in einem engen vorgefundenen Zustand, den er noch ändern will, gemein mit allen Gesetzgebern, und Erfindern; je größer solches Menschen Geist, je erhabener seine Seele, je belebter sein Herz, je reichhaltiger, vielfältiger, muß er wählen und darstellen, und Zustände kombiniren, und in dem Alten Neues sehen und zeigen: aber desto weniger auch wird er begriffen, oder desto häufiger ihm nicht gefolgt werden können, er unverstanden bleiben; und also oft nicht anerkannt werden, und von Dreisteren, die [S. 74] sich vieles angelernt haben, ohne das zu ahnden, was nicht angelernt werden kann, getadelt; grad'zu. Dies ist eben der Zustand, in dem sich unser Publikum mit seinen Autoren befindet. Bei weitem vorzuziehen einer nur in einer Zeit, und auch da nur von den Verständnißreichen, wahr gewesenen, jetzt zu einem Patentbeifall gewordenen, unverdauten Anerkennung; die eine gänzlich äußere wird; aber auch Ansehen, Einkünfte und Orden giebt: bei uns ist alles dies im Werden und Wachsen; ganz lebendig mit allem andern Aufstreben und Gedeihen; in einer Art von Kriegszustand unter einander, der dem Selbst- und Doppelgespräch des Gewissens zu vergleichen ist; welches uns reinigt, fördert, immer beruhigen will, und eigentlich allein nur belebt. Welchem einzelnen Menschen wäre es wohl erlaubt, sich solche Komplimente zu schneiden, wie es jede Nation gegen sich selbst gelassen und blind ausführen darf; und wovon wir unfassionirten Deutschen bis vor einiger Zeit frei waren. Wir können ja eine ganz andere Nation werden; wenn nur wahr bleiben; und das Gute nehmen, wo es nur zu finden sein mag; andre nicht mit Nationalhaß verunglimpfen, und uns nicht aus Nationalliebe verhätscheln. –

Wir hatten noch keinen Nationalkönig, dem wir Siege zuschoben, die seine Diener erfochten; mit dem wir galant waren, und dann mit ihm und allen lebenden Sünden in Reue verfielen, dessen Verschwendung wir wie uns von Gott verliehene Gaben anstaunten, zu erhaschen suchten, und raubten, wie es kam; dessen Pedanterei und Hoffährtigkeit und Selbstverehrung uns nach langem Bürgerkrieg zu erretten [S. 75] schien; dem wir alle Künste seines Jahrhunderts zuschrieben, weil er in's Schauspiel ging, und sich seine Vergötterung gefallen ließ, der auf den Thron kam, als eine Menge regiertender Vasallen gebändigt, und ihr Land seinem Reiche einverleibt war, der, weil er nie allein sein konnte, und alles gesprächsweise abmachte, die Nationalgeselligkeit auf den höchsten Punkt trieb, wohin der Letzte im Volk mit hinan gezogen, und geschickt dazu ward; einen Mann, bei dessen Regierung die Welt gleichsam nach Luft schnappte, weil die kultivirten Gräuel bis auf den äußersten Gipfel gekommen waren; aber doch noch oft von neuem wütheten; der sie ganz gottselig selbst befahl: und sie von Geistlichen und weltlichen Gelehrten saktioniren, und rein waschen ließ. Wir brauchten auch keinen Helden, der sein eigen Land besiegen mußte, wie Heinrich der Vierte: wir haben eine ganz andere Geschichte; und streben doch nach den Fehlern, die jene Geschichte der Nation aufprägen muß: könnten wir ihre Tugenden ohne ihr Unglück uns eigen machen! – Montag den 5. November 1822, nachdem Mad. Boucher gesagt hatte, Goethens Tasse "c'est un hypochondre!" –

 

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